Plündert die Massenfischerei unsere Meere?
Daniel Pauley stand vor einem Rätsel. Von der UN war der Direktor des Fisheries Centre der Universität von British Columbia in Vancouver damit beauftragt worden, die Lage der Fischbestände in den internationalen Gewässern zu überprüfen. Doch die Zahlen ergaben keinen Sinn. Einerseits stieg die Fangquote weltweit an – ein scheinbar eindeutiges Zeichen für eine robuste und nachhaltige Entwicklung. Andererseits berichteten Fischer und Experten auf lokaler Ebene teilweise dramatische Rückgänge in den Erträgen, schienen manche Fischarten praktisch unauffindbar. Wie war dieses Missverhältnis zu erklären? Pauley schlug sich die Nächte mit Datenrecherche um die Ohren, besuchte alle führenden Fischereimärkte und sprach mit allen Beteiligten persönlich. Dann wurde ihm das schockierende Ergebnis klar: Der Problemherd lag in China, wo die Behören, aus der Angst heraus, ihre von oben vorgegebenen Quoten nicht erfüllen zu können, ihre Statistiken fälschten. Und das sogar so sehr, dass sie die globalen Fischfangergebnisse beständig nach oben trieben, während in Wahrheit die Meere systematisch durch Massenfischerei leergefischt wurden. Pauley löste Alarm aus – und trat damit eine bis heute andauernde Diskussion um die Rettung der Fischbestände in Gang.
Massenfischerei: Es sieht nicht gut aus

Erste politische Zeichen
Die mangelnde emotionale Bindung mit Fischen als Lebewesen, die beispielsweise bei Hühner oder Rindern noch gegeben ist, mag vielleicht auch erklären, weswegen es bisher so wenig fassbare politische Unterstützung für ökologische Bemühungen in diese Richtung gegeben hat. Die Fischereiquoten für den bei Sushi-Liebhabern so geschätzten Blauflossenthunfisch beispielsweise wurden bei den jährlichen Treffen der EU-Fischereiminister lange gewohnheitsgemäß und gegen die Empfehlungen kritischer Stimmen, radikal hoch gehalten. Und obwohl sich überall Reservatprojekte herausbilden, innerhalb derer sich die Natur von menschlichen Eingriffen unbehelligt erholen kann, schützen sie gerade einmal ein Prozent des gesamten Meeresvolumens. Die Ernennung von Maria Damanaki als EU Fischereikommissarin könnte jedoch ein vorsichtiges erstes Zeichen dafür sein, dass sich die Zeiten ändern. Damanaki steht für eine stärkere Berücksichtigung der Nachhaltigkeitsbefürworter, für eine langfristige Politik und eine tiefgreifende Reform der Fischerei, von Überfischung bis hin zu der Vermarktung von Meerestieren. Das nehmen ihr nicht alle Mitgliedstaaten dankbar ab, darunter Island, das weiterhin die Verwendung von Grundschleppnetzen befürwortet, welche maßgeblich für die Zerstörung des Ökosystems auf dem Meeresboden in Verbindung gebracht werden. Doch Damanaki, die in Griechenland während der Militärdiktatur gefangengehalten und gefoltert wurde, ist bereits für ihre Überzegungen „in den Krieg zu ziehen“. Als Reykjavik letztes Jahr, unzufrieden mit dem aus Brüssel verordneten Kurs, eigenhändig die isländische Makrelenquoten auf eine Zahl erhöhten, die 35% über den Empfehlungen des Internationalen Rates für Meeresforschung lagen, begann die EU mit der Vorbereitung von Sanktionen. Unabhängig davon, ob es wirklich dazu kommen wird und ob sie sich aus ausreichend erweisen werden, war damit ein erstes Ausrufezeichen gesetzt.
Freilich ist die Problematik weitaus komplexer als die meisten Beobachter öffentlich eingestehen mögen. Das isländische Begehren beispielsweise basierte auf der durchaus nachzuvollziehenden Argumentation, dass sich die Makrelen durch den globalen Klimawandel nun lieber in isländischen Gewässern aufhalten und somit auch die Fangquote dort höher ausfallen müsse. Durch entschlossenes Gegensteuern ist es desweiteren beispielsweise bei dem lange Zeit gefährdeten Kabeljau gelungen, dass sich die Bestände erholt haben. Und Christopher Zimmermann vom Thünen-Institut für Ostseefischerei hält die gesamte Darstellung des Themas für verfehlt und prangert in einem Artikel der FAZ die generelle Verteuflung von Grundschleppnetzen, die unnuancierte Betrachtung vieler Umweltschutzorganisationen sowie die Schwäche der aktuellen Quoten an: Außer für den europäischen All gelte, dass es „für alle anderen Arten Bestände gibt, die nachhaltig bewirtschaftet werden.“
Konträre Positionen
In einem tiefgehenden Sonderheft hat die Zeitschrift Mare die beiden Positionen zu dem Thema einander gegenübergestellt. Die Seite der Fischerei-Kritiker nahm dabei Daniel Pauly ein, während sein Kollege Gerd Huboldt, Direktor der Bundesforschungsanstalt für Fischerei in Hamburg, die Gegenseite vertrat. Für Huboldt steht fest, dass nachhaltige Fischerei eine Frage des politischen Willens und auch biologisch möglich ist: „Das Geheimnis einer nachhaltigen Fischerei besteht darin, das schwierige Gleichgewicht zwischen Elternbestand, Nachwuchsaufkommen und Fang zu finden und auch bei schwankenden Umweltbedingungen möglichst dauerhaft aufrechtzuerhalten. Dieses Gleichgewicht ist von Fischart zu Fischart, von Region zu Region und von Jahr zu Jahr verschieden. Zur Berechnung des Gleichgewichts ermitteln Fischereibiologen die notwendigen Daten, sie treffen Vorhersagen über die Bestands-, Nachwuchs- und Fangentwicklung aller wichtigen Fischbestände und leiten Fangempfehlungen ab. Wenn diese umgesetzt werden, besteht eine gute Chance auf eine dauerhafte „nachhaltige“ Nutzung der betreffenden Arten“, so Huboldt, „Überfischung großer Bestände ist für sich genommen kein Anlass für ein Endzeitszenario. Fischereien auf reproduktionsstarke und robuste Arten können durch besseres Management wieder in produktive Größenordnungen zurückgebracht werden.“
Das sieht Pauly ganz anders, der außer einem totalen Ausstieg aus der Fischerei und einem völligen Umdenken keinen Kompromiss erkennen kann: „Fischerei war noch nie „nachhaltig““, behauptet er, „Im Gegenteil, sie hat in Serie Fischbestände geplündert und diesen Umstand geschickt maskiert. Rückgänge bei den Fangmengen wurden durch verbesserte Technik wettgemacht, durch geografische Expansion und nicht zuletzt durch den Rückgriff auf Spezies von niederem Rang in der Nahrungspyramide, die man zuvor verschmäht hatte. Wenn man aktuelle Trends hochrechnet, kommt man zu dem Ergebnis, dass die Großfischereien, und da besonders jene, die sich auf die großen Raubfischarten konzentrieren, in wenigen Jahrzehnten weltweit kollabieren werden.“
Die Macht der Verbraucher

Siegel und Ratgeber
Das von Naturland ins Spiel gebrachte MSC-Siegel ist das weltweit weitverbreiteste und bekannteste. Das besondere an ihm ist, dass es sich nicht um die Ausarbeitung von Detailfragen kümmert und somit nicht so sehr ein „ökologisches“ Siegel ist, sondern vielmehr eine Verbesserung der „Ergebnisse “ anstrebt – also eine nachweisbare „Nachhaltigkeit“ der Fischerei. MSC ist vielfach kritisiert worden, sei es wegen der Nähe des ursprünglich hinter dem Zeichen stehenden WWFs zur Industrie oder Problemen bei der Zertifizierung, sei es, weil das Siegel vielen nicht weit genug geht. Tatsache ist aber, dass es von Verbrauchern inzwischen als Qualitätsauszeichnung anerkannt und akzeptiert ist und damit wohl als einziges eine Marktmacht auszuüben im Stande ist, welche in der Fischerei wirklich etwas bewegen kann. Wohl auch deshalb wird es etwas zähneknirschend von einer Organisation wie Greenpeace unterstützt und als hilfreiches Mittel anerkannt. Greenpeace und WWF geben dem Kunden darüber hinaus aber noch ein weiteres Mittel in die Hand, fundiertere Entscheidungen zu treffen: Mit dem Greenpeace Fischratgeber sowie dem WWF Einkaufsratgeber Fische und Meeresfrüchte 2012 lässt sich auf einen Blick nachprüfen, von welchen Fischen man besser ganz die Finger lässt.
Wenn Verbraucher selbst das Heft in die Hand nehmen, so die Idee der Macher, wird die Politik irgendwann folgen müssen. Den Händler konkret darauf anzusprechen, woher der Fisch kommt, den man kauft, und aktiv die dahinter stehende Problematik anzusprechen, kann ebenfalls dazu beitragen, dass die Thematik wirtschaftliche Relevanz bekommt. Dabei sollte man auch nicht vor der grundlegendsten Konsequenz halt machen und gelegentlich einfach mal ganz verzichten: Solange die Nachfrage für gefährdete Arten besteht, wird es für die Fischereiwirtschaft auch weiterhin keinen Grund geben, sich für konstruktive Lösungen einzusetzen.
Fotos: The End of the Line



